Die Versorgung von Städten wird als Herausforderung der städtebaulichen Entwicklung bereits seit Dekaden akademisch diskutiert. Eine Lösung wurde trotz aller Citylogistik-Konzepte bis heute nicht gefunden. Der Handlungsdruck nimmt unterdessen weiter zu. Über zwei Logonomics-Ausgaben werden Ursachen und Lösungsansätze der modernen Urbanen Logistik diskutiert. Welche Lösungspotenziale stecken darin?1
Weltweit leben immer mehr Menschen in Metropolen. Aktuell sind rund 50 % der Bevölkerung in einem urbanen Lebensraum beheimatet. Im Jahr 2050, so prognostizieren die Vereinten Nationen, befinden sich fast 70 % der Weltbevölkerung im urbanisierten Lebensraum. Die zunehmende Verstädterung trifft auch auf Deutschland zu. Ende 2019 lebten in Deutschland rund 40 %2 der Bevölkerung in einem dicht besiedelten Raum, d. h. in Gegenden mit einer Bevölkerungsdichte von mehr als 500 Einwohner/km². Dies ist auch ein Grund dafür, dass sich das Bevölkerungswachstum auf die Verflechtungsräume ausgedehnt hat.
All diese Menschen müssen versorgt werden. Im vergangenen Jahrzehnt sind die Menschen dabei mehr und mehr auf alternative Einkaufsmöglichkeiten im Internet ausgewichen. Die Coronapandemie hat diesen Trend angesichts geschlossener Innenstädte noch deutlich verschärft. Mit dem zunehmenden Individual-, Pendel- und Lieferverkehr und der rasanten Entwicklung im E-Commerce steigt das Verkehrsaufkommen immer stärker.
Zeitgleich steigen die Anforderungen an die Innenstädte. Der Nachhaltigkeitsgedanke sowie die Lebensqualität von Metropolen rücken immer mehr in den Vordergrund. Die Folgen für Metropolen sind u. a. steigende Verkehrs- und Emissionsbeschränkung.
Und genau an diesem Punkt offenbart sich das Dilemma. Damit Städte auch in Zukunft attraktive Lebensräume sowie eine bedarfsgerechte Versorgung gewährleisten können, wird immer dringender eine funktionierende Urbane Logistik benötigt, die beide Entwicklungen in Einklang bringt. Noch gibt es allerdings kein Konzept, welches das Dilemma vollständig löst. Tradierte oder flächendeckende Konzepte greifen hier zu kurz, da die „europäische Stadt“3 organisch gewachsen und somit sehr heterogen aufgebaut ist. Ein Mix von unterschiedlichen Lösungsansätzen und Konzepten, basierend auf einer skalierbaren Grundstruktur, ist dagegen vielversprechender.
Auf die Problemstellungen und Lösungsansätze wird im Folgenden näher eingegangen:
Es lässt sich nichts daran deuteln, dass der immer größer werdende Anteil des E-Commerce auch zu einem enormen Anstieg der KEP-Sendungen geführt hat. Getriggert durch die Coronapandemie wurde 2020 mit über 4 Mrd. Sendungen ein neues Rekordergebnis erzielt. Die Aufteilung in Sendungen an Unternehmen bzw. Konsumenten zeigt pandemiebedingt ein sehr gegensätzliches Bild. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen hat der Onlinehandel (B2C) einen nie da gewesenen Hype erfahren, während Lieferungen an Unternehmen (B2B) rückläufig waren. Für die Zeit nach der Pandemie ist davon auszugehen, dass dieser gestiegene Onlineanteil beim B2C-Bereich beibehalten wird – zu sehr haben die Menschen die neue Bequemlichkeit in ihren Lebensalltag eingebaut. Im B2B-Bereich wird durch den wirtschaftlichen Aufschwung eine deutliche Steigerung des Paketaufkommens erwartet. Zusammengenommen verschärft sich daher der Druck auf die Städte.
Vor dem Hintergrund des steigenden Paketaufkommens ist es naheliegend, die zunehmende Verstopfung der Innenstädte mit dem zeitgleich steigenden Internethandel in Verbindung zu bringen. Sofern diesem Trend Einhalt geboten werden kann, „wird alles gut“. Die Lösung ist einfach – der Verkehr muss raus aus der Stadt. Doch ist die Argumentationskette stimmig? Mit Blick auf Hamburg als Beispielstadt offenbart sich ein interessanter Widerspruch, der zeigt, dass die Wirklichkeit wieder einmal komplexer ist.
Selbstverständlich wird beim Transport der Pakete ein Verkehrsaufkommen erzeugt. Und in der Wahrnehmung werden mehr Pakete gleichbedeutend mit mehr Verkehrsaufkommen assoziiert. Subjektiv empfunden stehen die Verkehrsteilnehmer ständig hinter und mit einem Lieferdienst im Stau. Das Problem ist: Das Verkehrsaufkommen in Hamburg sinkt seit Jahren. Aussage und Zahlen passen nicht zusammen.
Der Blick auf das Verkehrsaufkommen an den Verkehrszählungspunkten per Heatmap offenbart, dass sich die Verkehrsbelastung in einem dispersen Muster nahezu großflächig über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Wären KEP-Fahrzeuge maßgeblich am Verkehrsaufkommen ursächlich, dann müsste es zumindest Indikatoren geben, die für die wichtigsten Transportrouten deutlichere Signale darstellen. Die Frage ist daher: Was trägt noch maßgeblich dazu bei den Verkehrsfluss zu lähmen.
Hamburg zählt 2020 zu den Stau-Hauptstädten in Deutschland und ist nach Berlin mit einem Staulevel von 29 %6 auf Platz zwei. Eine „Schriftliche Kleine Anfrage“7 zeigt jedoch, dass die Entwicklung des Verkehrs in Hamburg insgesamt rückläufig ist. Diese Entwicklung betrifft insbesondere die Bereiche „City“, „Kernstadt“ und „Stadtstraßen“ und gilt für den Kfz-Verkehr wie auch für den Schwerverkehr. Eine Zunahme an Verkehr ist nur für die Bereiche „Autobahnen“ und „Landesgrenzen“ festzustellen8. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären?
Die Stadt als urbanes Verkehrslabor der modernen Gesellschaft: Hohe Vielfalt bei den Hemmfaktoren im Verkehrsfluss erkennbar
Für einen passiven und neutralen Beobachter urbaner Verkehre gleicht die lebendige Vielfalt der städtischen Verkehrsteilnehmer einem urbanen Verkehrslabor und damit einem Querschnitt unserer modernen Gesellschaft mit all ihren Ausprägungen.
Vielfältige Verkehrsteilnehmer lähmen die Innenstädte:
Zudem sind die Busse des ÖPNVs bzw. neue Formen wie MOIA sowie die Pendler bzw. der Individualverkehr, wie z. B. Touristen, mit ihren Pkws auf den Straßen der Metropolen sehr gegenwärtig. Das Parken in zweiter Reihe wird dabei als nahezu regelkonform interpretiert, erschwert aber den Verkehrsfluss zusätzlich.
Viele der oben genannten Verkehrsteilnehmer sind dadurch geprägt, dass sie eine hohe Stoppdichte aufweisen. Der nachfolgende Verkehr muss immer wieder abbremsen und staut sich auf. Die Verkehrsinfrastruktur ist einerseits durch Wachstum, andererseits durch Instandhaltungsstau geprägt. Die Folge sind viele Baustellen, die häufig zwischen Kernstadt und den Straßen/Autobahnen im niedersächsischen Umland wenig koordiniert werden und den Verkehrsfluss z. T. erheblich behindern.
Mit Blick auf die Vielzahl an Verkehrsteilnehmern und die äußeren Umstände wird deutlich, dass das singuläre Herauspicken eines Verkehrsteilnehmers den Blick auf das große Ganze verstellt. Der Lieferverkehr ist nur einer unter vielen Faktoren und nicht Ursache des urbanen Verkehrsinfarktes.
Das Thema Nachhaltigkeit spielt für Metropolen eine zentrale Rolle. Aufgrund der Maßnahmen zur Reduzierung von Emissionen (Lärm und Luftschadstoffe) rücken zunehmend andere Verkehrsteilnehmer in den Vordergrund. Konkret bedeutet dies, dass z. B. die Fuß- und Radwege ausgebaut werden und damit Straßenfläche für Pkw/Lkw entnommen wird. Zudem werden Bereiche in der Stadt für den Kraftverkehr gesperrt bzw. stark eingeschränkt. In Hamburg wurde beispielsweise ein zentraler Ort wie der Jungfernstieg weitestgehend autofrei9. Vor dem Hintergrund der Lebensqualität absolut verständlich und zu befürworten, für den Verkehrsfluss aber eine weitere Eskalationsstufe.
Wie kann ein drohender Verkehrskollaps in Metropolen verhindert und gleichzeitig die Lebensqualität verbessert werden. Sicher nicht, indem Lieferverkehre in den städtebaulichen Konzepten ausgeblendet bzw. vergessen werden.10 Sicherlich ist es aus politischen Gründen verständlich und kommt beim Wähler auch gut an, wenn Quartiere alle städtebaulichen Maßnahmen auf Schaffung von Wohnraum und Lebensqualität abzielen. Wenn bestellte Waren, mitunter auch einmal kritisch benötigte, nicht rechtzeitig ankommen, dann wächst der Unmut aber ebenfalls. In der Pandemie wurde die Logistik als „systemrelevant“ erkannt. Bleibt davon viel übrig, wenn Lockdown und Inzidenzwerte wieder etwas in Vergessenheit geraten? Es bleibt zu hoffen, dass die Sensibilität dafür steigt, dass die Urbane Logistik ebenfalls ein systemrelevanter Stakeholder in der Stadt ist.
Als Quintessenz lässt sich bis hier festhalten, dass es prinzipiell zwei Aspekte sind, die für eine funktionierende Urbane Logistik optimiert werden müssen. Zum einen sind dies neue Konzepte des Warenumschlags, der bis heute primär vor den Toren der Stadt durchgeführt wird. Gerade für die Feinverteilung müssen die Logistikflächen in Kundennähe organisiert werden. Und nahezu gleichbedeutend ist der Transport selbst. Wie gelingt hier eine Transformation in die Zukunft?
Lesen Sie in der nächsten Ausgabe weiter, welche unterschiedlichen Konzepte eine bedarfsgerechte und nachhaltige Versorgung in urbanen Räumen unterstützen und welches Lösungspotenzial Lastenräder und Mikrodepots bieten.
1. Einordnung Urbane Logistik / Abgrenzung zur Citylogistik: Der Begriff Citylogistik bezieht sich auf die Lösungsansätze in der primär akademischen Diskussion, die bis in die 1980er-Jahre zurückreicht, allerdings das Problem der städtischen Versorgung mit Ausnahme von Pilotprojekten nicht lösen konnte. Aspekte und Entwicklungen des E-Commerce wurden kaum berücksichtigt. Die Urbane Logistik berücksichtigt dagegen diese aktuellen Herausforderungen und umfasst ein breiteres Spektrum der Stakeholder inkl. Immobilienwirtschaft. Zudem schließt sie die großflächigen Immobilientypen (z. B. E-Fulfillmentcenter) mit ein, die i. d. R. im Umland von Metropolen liegen. Die Urbane Logistik ist damit in einem Gesamtkontext zu sehen und hört nicht bei der Stadtgrenze auf. Wir beziehen uns innerhalb dieses Artikels daher auf die Urbane Logistik als Bezugsrahmen.
2. Quelle: Statistisches Bundesamt.
3. Hinweis: Die europäische Stadt ist durch eine sehr starke Diversität auf kleinem Raum gekennzeichnet. Eine Vermischung von Arbeits- und Wohnfunktion in Gebäuden ist vorhanden sowie ein zunehmender Bodenwert vom Rand zum Zentrum.
4. Quelle: , BIEK, M-R-U GmbH
* Hinweis zu Abb. 2: Die Prozentangabe zeigt an, um wie viel sich die durchschnittliche Fahrtzeit im Vergleich zu einer Fahrt bei normalem Verkehrsfluss verlängert.
** Hinweis zu Abb. 2: Durchschnittlicher täglicher Verkehr an Werktagen.
6. Hinweis zu „Staulevel von 29 % in Hamburg“: Um so viel verlängert sich die durchschnittliche Fahrtzeit im Vergleich zu einer Fahrt bei normalem Verkehrsfluss.
7. Quelle: „Schriftliche Kleine Anfrage“ der Abgeordneten Rosa Domm und Gerrit Fuß vom 22.10.2020 an den Hamburger Senat.
8. Quelle: https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/73036/entwicklung_des_verkehrs_in_hamburg.pdf
9. Quelle: https://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/14456328/2020-10-15-bvm-verkehrsfuehrung-jungfernstieg.
10. Quelle: https://www.openpetition.de/petition/online/bewohnerparken-im-quartier-mitte-altona.
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